Was die Chinesen über China denken

 

In unserem Buch „Pulverfass China“ gehen wir der Frage nach, was die Chinesen heute bewegt. Wie ist die Stimmung im Land? Sind die Menschen zufrieden? Was bemängeln sie? Zweihundert in China geführte Interviews geben darüber Aufschluss. Hier ein Auszug:

In nur dreißig Jahren gelang den Chinesen, wozu andere Völker mehrere Hundert Jahre benötigten: die Umwandlung von einem bitterarmen heruntergewirtschafteten Entwicklungsland in eine führende Wirtschaftsnation. Das Leben der Chinesen hat sich dadurch dramatisch verändert. Aus dunklen trostlosen Städten sind glitzernde Metropolen geworden, miteinander verbunden durch ein modernes Autobahn- und Hightech-Schienennetz. Viele Chinesen benutzen das Flugzeug heute mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie an der nächsten Straßenecke in einen Bus einsteigen. Kaum zu glauben, dass noch in den 1980er Jahren Fahrräder das Straßenbild beherrschten und die wichtigsten Lebensmittel rationiert waren. …

Die Reformpolitik der letzten Jahrzehnte ist eine einmalige Erfolgsgeschichte, die in einem derart rasanten Tempo verlief, dass für viele Chinesen die Welt auf dem Kopf zu stehen scheint. Müssten sie angesichts dieser atemberaubenden Entwicklung nicht hochzufrieden sein?

In der Tat treten die politischen Repräsentanten des Landes heute mit gestärktem Selbstbewusstsein auf. Die Kommunistische Partei Chinas, die diesen Höhenflug mit ihrer Reform- und Öffnungspolitik möglich machte, beansprucht den Erfolg für sich. Dennoch steht sie vor gewaltigen Herausforderungen, deren Ausgang noch völlig offen ist. Als sie 1949 die Herrschaft über das heruntergewirtschaftete und durch Kriege erschütterte Land übernahm, tat sie dies mit breiter Unterstützung der Bevölkerung. Eine fehlgeleitete Politik führte jedoch zu dramatischen Rückschlägen. Nach Mao Zedongs Tod konnte Deng Xiaoping im Jahre 1978 das Ruder herumreißen und durch seine auf Wirtschaft und Öffnung ausgerichtete Politik den sensationellen Aufschwung einleiten. Dennoch leidet die Partei unter einem gewaltigen Vertrauensverlust. Selbst unter den eigenen Mitgliedern herrscht größte Skepsis, ob sie die richtigen Lösungen für die brennenden Probleme finden kann.

China ist ein Land der Widersprüche und diese treten immer deutlicher zutage. Nie zuvor in den vergangenen sechs Jahrzehnten ist im Land so kontrovers und auch so offen über die politische Situation diskutiert worden. Während für die einen noch immer ungebrochene Aufbruchstimmung herrscht, schrillen für die anderen längst die Alarmglocken. … Einerseits hat sich ihre gesamte Lebensstituation verbessert, und sie verfügen heute über vielfältige Möglichkeiten der Lebensplanung und –gestaltung, der Kommunikation und Mobilität. Andererseits wirft die tägliche Realität drängende Fragen auf nach Recht und Unrecht, Sinn und Wahrheit. …

Was bewegt die Menschen heute in China, was beunruhigt sie, womit sind sie unzufrieden, was bedrückt sie, und nicht zuletzt: Worauf sind sie stolz? Wir wollten es wissen und stellten deshalb zwei Fragen: Womit seid ihr zufrieden? Womit unzufrieden? Oft präzisierten wir unsere Frage und sprachen den Mangel an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten an. Ist es das, was euch fehlt? …

Ein altgedienter bekannter Parteiveteran meinte spontan: „In die heutige Kommunistische Partei wäre ich nie eingetreten. Wir haben damals mit unserer Revolution von 1949 die alte Klassengesellschaft zerschlagen, die Unterschiede zwischen Arm und Reich aufgehoben, Korruption und Prostitution aus unserer Gesellschaft verbannt. Doch inzwischen tauchen die alten Übel überall wieder auf, und es sind neue Klassen entstanden. Die Kinder und Enkel der herrschenden Parteifunktionäre sind die Profiteure unseres ungeheuren Wirtschaftsbooms. Sie bilden den neuen Geldadel. Die Reichen von heute sind noch wesentlich reicher als jene von damals, nur anders als früher bringen die meisten von ihnen heute ihr Kapital ins Ausland, weil sie selbst nämlich kein Vertrauen in die Entwicklung unseres Landes haben.“

Häufig lösten die Gespräche bei uns Autoren große Betroffenheit aus, nämlich immer dann, wenn die Situation im Lande in den düstersten Farben geschildert wurde, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, China sei ein Pulverfass. Aber stimmt das? Ist China wirklich ein Pulverfass oder war die Kritik unserer oftmals sehr aufgebrachten Gesprächspartner übertrieben? Nein, sie war nicht übertrieben. Viel Unrecht ist geschehen, und geschieht täglich weiter, nachzulesen im Internet, aber durchaus auch in den chinesischen Tageszeitungen oder zu verfolgen in kritischen Beiträgen der zentralen und Hongkonger Fernsehsender. Und dennoch: Trotz aller berechtigten Klagen ist im Land Enormes geleistet worden. Niemals zuvor in den vergangenen sechzig Jahren hat es so viel individuelle Freiheit gegeben. Auch sind gewaltige Schritte in Richtung Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen gemacht worden. Aus eigener Anschauung können wir den heutigen Lebensstandard mit dem vor 1949 und dem in den 1970er Jahren vergleichen. Erzählen wir den jungen Leuten heute, dass es sogar noch Anfang der 1980er Jahre oft ein unlösbares Problem war, telefonieren zu wollen, treffen wir auf skeptisches Staunen, das jedoch nicht lange anhält. Die Jugend mag sich nicht mit solchen Vergleichen abspeisen lassen, und Geduld zählt nicht zu ihren Tugenden. Sie verlangt mehr. …

Wie also steht es um die Situation im Land? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Ein bekannter Professor der Beijinger Qinghua-Universität sieht China in der Tat als eine Art Pulverfass. Er stellte kürzlich fest: „In Wirklichkeit steht es viel schlimmer um unser Land, als die meisten ahnen. Unsere Gesellschaft ist todkrank und ohne jede Hoffnung auf Genesung. Sie steht vor dem Zusammenbruch.“
Was macht China krank? Eine Umfrage brachte es an den Tag und deckt sich mit den Ergebnissen unserer eigenen Recherchen. Im November 2009 verteilte das „Volksforum“, eine Zeitschrift, die der „Volkszeitung“ angehört, an 8 000 Personen in hundert Universitäten und Instituten eine Liste, auf der die größten vermuteten Probleme der nächsten zehn Jahre aufgeführt waren, von denen die Befragten mehrere ankreuzen konnten.

Über achtzig Prozent der Befragten nannten die ausufernde Korruption in der Funktionärsschicht und den damit einhergehenden dramatischen Autoritätsverlust der Parteiführung als größtes Problem in ihrem Land. Sie gingen sogar davon aus, dass sich die Korruption in den nächsten zehn Jahren noch verschlimmern würde. Ebenfalls über achtzig Prozent beunruhigt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die daraus resultierende Angst vor Aufständen und Übergriffen. Über sechzig Prozent nannten die Konflikte mit Parteifunktionären in lokalen Verwaltungseinheiten als gefährlichen Herd von Empörung und Aufruhr. Durch gierige und skrupellose Kader geschehe so viel Unrecht, dass sich die Bürger heute fragten, wem die Partei eigentlich diene. Dem Volke, wie sie es immer propagiere, sicherlich nicht. Das Vertrauen in die Kommunistische Partei ist tief gestört. Man glaubt ihren Vertretern nicht mehr. …