Was die Chinesen über China denken

   

In unserem Buch „Pulverfass China“ gehen wir der Frage nach, was die Chinesen heute bewegt. Wie ist die Stimmung im Land? Sind die Menschen zufrieden? Was bemängeln sie? Zweihundert in China geführte Interviews geben darüber Aufschluss. Hier ein Auszug:

In nur dreißig Jahren gelang den Chinesen, wozu andere Völker mehrere Hundert Jahre benötigten: die Umwandlung von einem bitterarmen heruntergewirtschafteten Entwicklungsland in eine führende Wirtschaftsnation. Das Leben der Chinesen hat sich dadurch dramatisch verändert. Aus dunklen trostlosen Städten sind glitzernde Metropolen geworden, miteinander verbunden durch ein modernes Autobahn- und Hightech-Schienennetz. Viele Chinesen benutzen das Flugzeug heute mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie an der nächsten Straßenecke in einen Bus einsteigen. Kaum zu glauben, dass noch in den 1980er Jahren Fahrräder das Straßenbild beherrschten und die wichtigsten Lebensmittel rationiert waren. …

Die Reformpolitik der letzten Jahrzehnte ist eine einmalige Erfolgsgeschichte, die in einem derart rasanten Tempo verlief, dass für viele Chinesen die Welt auf dem Kopf zu stehen scheint. Müssten sie angesichts dieser atemberaubenden Entwicklung nicht hochzufrieden sein?

In der Tat treten die politischen Repräsentanten des Landes heute mit gestärktem Selbstbewusstsein auf. Die Kommunistische Partei Chinas, die diesen Höhenflug mit ihrer Reform- und Öffnungspolitik möglich machte, beansprucht den Erfolg für sich. Dennoch steht sie vor gewaltigen Herausforderungen, deren Ausgang noch völlig offen ist. Als sie 1949 die Herrschaft über das heruntergewirtschaftete und durch Kriege erschütterte Land übernahm, tat sie dies mit breiter Unterstützung der Bevölkerung. Eine fehlgeleitete Politik führte jedoch zu dramatischen Rückschlägen. Nach Mao Zedongs Tod konnte Deng Xiaoping im Jahre 1978 das Ruder herumreißen und durch seine auf Wirtschaft und Öffnung ausgerichtete Politik den sensationellen Aufschwung einleiten. Dennoch leidet die Partei unter einem gewaltigen Vertrauensverlust. Selbst unter den eigenen Mitgliedern herrscht größte Skepsis, ob sie die richtigen Lösungen für die brennenden Probleme finden kann.

China ist ein Land der Widersprüche und diese treten immer deutlicher zutage. Nie zuvor in den vergangenen sechs Jahrzehnten ist im Land so kontrovers und auch so offen über die politische Situation diskutiert worden. Während für die einen noch immer ungebrochene Aufbruchstimmung herrscht, schrillen für die anderen längst die Alarmglocken. … Einerseits hat sich ihre gesamte Lebensstituation verbessert, und sie verfügen heute über vielfältige Möglichkeiten der Lebensplanung und –gestaltung, der Kommunikation und Mobilität. Andererseits wirft die tägliche Realität drängende Fragen auf nach Recht und Unrecht, Sinn und Wahrheit. …

Was bewegt die Menschen heute in China, was beunruhigt sie, womit sind sie unzufrieden, was bedrückt sie, und nicht zuletzt: Worauf sind sie stolz? Wir wollten es wissen und stellten deshalb zwei Fragen: Womit seid ihr zufrieden? Womit unzufrieden? Oft präzisierten wir unsere Frage und sprachen den Mangel an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten an. Ist es das, was euch fehlt? …

Ein altgedienter bekannter Parteiveteran meinte spontan: „In die heutige Kommunistische Partei wäre ich nie eingetreten. Wir haben damals mit unserer Revolution von 1949 die alte Klassengesellschaft zerschlagen, die Unterschiede zwischen Arm und Reich aufgehoben, Korruption und Prostitution aus unserer Gesellschaft verbannt. Doch inzwischen tauchen die alten Übel überall wieder auf, und es sind neue Klassen entstanden. Die Kinder und Enkel der herrschenden Parteifunktionäre sind die Profiteure unseres ungeheuren Wirtschaftsbooms. Sie bilden den neuen Geldadel. Die Reichen von heute sind noch wesentlich reicher als jene von damals, nur anders als früher bringen die meisten von ihnen heute ihr Kapital ins Ausland, weil sie selbst nämlich kein Vertrauen in die Entwicklung unseres Landes haben.“

Häufig lösten die Gespräche bei uns Autoren große Betroffenheit aus, nämlich immer dann, wenn die Situation im Lande in den düstersten Farben geschildert wurde, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, China sei ein Pulverfass. Aber stimmt das? Ist China wirklich ein Pulverfass oder war die Kritik unserer oftmals sehr aufgebrachten Gesprächspartner übertrieben? Nein, sie war nicht übertrieben. Viel Unrecht ist geschehen, und geschieht täglich weiter, nachzulesen im Internet, aber durchaus auch in den chinesischen Tageszeitungen oder zu verfolgen in kritischen Beiträgen der zentralen und Hongkonger Fernsehsender. Und dennoch: Trotz aller berechtigten Klagen ist im Land Enormes geleistet worden. Niemals zuvor in den vergangenen sechzig Jahren hat es so viel individuelle Freiheit gegeben. Auch sind gewaltige Schritte in Richtung Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen gemacht worden. Aus eigener Anschauung können wir den heutigen Lebensstandard mit dem vor 1949 und dem in den 1970er Jahren vergleichen. Erzählen wir den jungen Leuten heute, dass es sogar noch Anfang der 1980er Jahre oft ein unlösbares Problem war, telefonieren zu wollen, treffen wir auf skeptisches Staunen, das jedoch nicht lange anhält. Die Jugend mag sich nicht mit solchen Vergleichen abspeisen lassen, und Geduld zählt nicht zu ihren Tugenden. Sie verlangt mehr. …

Wie also steht es um die Situation im Land? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Ein bekannter Professor der Beijinger Qinghua-Universität sieht China in der Tat als eine Art Pulverfass. Er stellte kürzlich fest: „In Wirklichkeit steht es viel schlimmer um unser Land, als die meisten ahnen. Unsere Gesellschaft ist todkrank und ohne jede Hoffnung auf Genesung. Sie steht vor dem Zusammenbruch.“
Was macht China krank? Eine Umfrage brachte es an den Tag und deckt sich mit den Ergebnissen unserer eigenen Recherchen. Im November 2009 verteilte das „Volksforum“, eine Zeitschrift, die der „Volkszeitung“ angehört, an 8 000 Personen in hundert Universitäten und Instituten eine Liste, auf der die größten vermuteten Probleme der nächsten zehn Jahre aufgeführt waren, von denen die Befragten mehrere ankreuzen konnten.

Über achtzig Prozent der Befragten nannten die ausufernde Korruption in der Funktionärsschicht und den damit einhergehenden dramatischen Autoritätsverlust der Parteiführung als größtes Problem in ihrem Land. Sie gingen sogar davon aus, dass sich die Korruption in den nächsten zehn Jahren noch verschlimmern würde. Ebenfalls über achtzig Prozent beunruhigt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die daraus resultierende Angst vor Aufständen und Übergriffen. Über sechzig Prozent nannten die Konflikte mit Parteifunktionären in lokalen Verwaltungseinheiten als gefährlichen Herd von Empörung und Aufruhr. Durch gierige und skrupellose Kader geschehe so viel Unrecht, dass sich die Bürger heute fragten, wem die Partei eigentlich diene. Dem Volke, wie sie es immer propagiere, sicherlich nicht. Das Vertrauen in die Kommunistische Partei ist tief gestört. Man glaubt ihren Vertretern nicht mehr. …

 



Eine 75jährige Dorfvorsteherin erzählt vom Wandel in ihrem Dorf

   

Die Dorfvorsteherin raucht Kette, ihr Blick ist hellwach. Auszüge aus unserem Buch „Pulverfass China“:

140 Familien leben in ihrem Dorf, insgesamt 450 Einwohner. Früher war es eins der ärmsten Dörfer in der Umgebung von Beijing, heute zeigt es sich dem unangemeldeten Besucher als schmuckes, blitzblankes Örtchen. Die Häuser sind fast alle geschmackvoll renoviert und weitgehend im niedrigen traditionellen Baustil angelegt.

„Hier lebten noch nie viele Menschen, aber wir verfügten immer über viel Boden. Durch den traditionellen Weizenanbau verdienten wir nichts, weil die staatlichen Ankaufspreise zu niedrig waren. Als die Reformpolitik begann, haben wir lange darüber nachgegrübelt, wie wir wohl zu Wohlstand kommen könnten. Ab 1990 begannen wir Bäume zu pflanzen. Das war damals ein gutes Geschäft, weil Bäume besonders zur Begrünung der Städte sehr gefragt waren. Aber dann pflanzten plötzlich alle Bauern in der Umgebung Bäume, so dass es bald ein Überangebot gab und die Preise fielen.

Dann fingen wir an, unser Land zu verpachten. Zunächst siedelte sich eine Beijinger Fleischverarbeitungsfirma bei uns an. Später kamen Hightech-Firmen hinzu. An den Pachteinnahmen werden alle beteiligt. Durch die Nähe zur Hauptstadt bieten sich gute Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dortigen Betrieben. Zum Beispiel haben wir gemeinsam mit einer Supermarktkette einen Betrieb gegründet und 150 Gewächshäuser angelegt, in denen Gemüse gezogen wird. Sechzig Prozent des Gewinns gehen an uns, vierzig Prozent an die Beijinger Firma. Die Qualität unseres Gemüses wird regelmäßig vom Staat geprüft. Wenn schädliche Rückstände nachgewiesen werden, wird das schwer bestraft. Deshalb achten wir sehr auf die Qualität, und bisher gab es noch keine Beanstandungen.

Trotz der vielen Verpachtungen haben wir immer noch genügend freies Land, das wir für den Eigenbedarf bewirtschaften können. Neben Getreide ziehen wir Obst und Datteln, züchten Fische, Schweine und Schafe. Die meisten jungen Leute arbeiten in nahe gelegenen Fabriken. Wenn wir alles zusammen rechnen, haben unsere Dorfbewohner ein Basiseinkommen von 3700 RMB pro Jahr und Kopf, unabhängig davon, ob sie in der Stadt oder hier auf dem Land arbeiten. Nicht enthalten in dieser Summe sind die selbst erwirtschafteten Einkünfte und die Löhne. Letztere sind individuell sehr unterschiedlich, je nachdem, wer wo arbeitet. Insgesamt gesehen leben wir hier weitgehend autark und brauchen nicht viel Geld zum Unterhalt. …

Die Reformpolitik hat in unserem Dorf bewirkt, dass die Bauern außer für die Eigennutzung kein Land mehr bewirtschaften. Sie haben es dem Kollektiv zur Verpachtung überlassen. Das hat jeder Familie große Vorteile gebracht. Die Bauern sind zufrieden. Viele haben sogar ein eigenes Auto. Insgesamt gibt es vierzig Autos in unserem Dorf. Manche Leute fahren sogar mit ihrem Privatwagen zur Arbeit in die Stadt. Es gibt natürlich bessere Dörfer als unseres. Ich kenne eins in der Region mit tausend Einwohnern und dreihundert Autos. Aber verglichen mit den Dörfern in den Bergen geht es uns hervorragend. Die entlegenen Gebiete können nicht mit den stadtnahen konkurrieren. Denen geht es längst nicht so gut wie uns. …

Ich stamme aus einer sehr armen Familie. Als ich acht Jahre alt war, hat mich mein Vater in dieses Dorf verkauft. Wenn ich zurückblicke, erscheint es mir selbst fast unglaublich, was vor 1949 alles passiert ist. Ich habe nicht viel gelernt, ich habe immer nur gearbeitet. Bis heute bin ich eine halbe Analphabetin. Was ich kann, habe ich durch meine Arbeit gelernt.

Mir liegt die Bildung der jungen Menschen am Herzen. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass jede Familie einen Internetanschluss hat. Das gehört für mich zu den Voraussetzungen einer guten Bildung. …

Insgesamt gesehen konnten die Reformen in der Landwirtschaft jedoch nicht verhindern, dass es wieder Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt. Einige Bauern waren zu Beginn der Reformen mutiger als andere, vielleicht waren sie auch vorausschauender. Sie haben anderen das Nutzungsrecht an deren Boden abgekauft, und jetzt verpachten sie ihn. Zunächst hieß es, dass sich an den Nutzungsrechten fünfzehn Jahre lang nichts ändern würde. … Inzwischen sind sie vererbbar geworden. Das bedeutet, dass Bauern, die das Nutzungsrecht an einem Stück Land verkauft haben, es nie mehr zurückerhalten, während andere das Land gewinnbringend verpachten können oder auf ihren zugekauften Flächen Obst und Gemüse pflanzen und wahnsinnig viel Geld verdienen. Das sorgt für viel Unmut. Die neuen Bodengesetze enthalten also noch viele Probleme. Wie man die lösen soll, weiß ich nicht, aber ich bin davon überzeugt, dass unserer Regierung etwas einfallen wird.“



Chinas kritische Internet-Öffentlichkeit

  

Das Internet hat in China mehreren Hundertmillionen Menschen die Möglichkeit gegeben, direkt Informationen auszutauschen. Dadurch ist eine mächtige Internet-Öffentlichkeit entstanden, die die Regierung durchaus zu Zugeständnissen zwingen kann. Auszüge aus dem Buch „Pulverfass China“:

Nicht um das Recht auf freie Meinungsäußerung oder um Informations- und Pressefreiheit ging es der Regierung, als sie den Zugang zum Worldwideweb freischalten ließ, sondern um den Anschluss an die Weltwirtschaft. Digitale Kommunikationsmittel zählten zu den Voraussetzungen, ohne die die chinesische Wirtschaft niemals den Höhenflug der vergangenen Jahre hätte schaffen können. Keiner der Regierenden ahnte damals, dass damit eine neue kritische Öffentlichkeit geschaffen würde: die Internet-Öffentlichkeit. Für Millionen Menschen wurde die direkte Kommunikation möglich. Jeder dritte Chinese hat heute Internet-Zugang, etwa 420 Millionen Menschen.

Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, werden quer durch alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten in überwältigendem Maße genutzt. Für die in den 1980er und erst recht in den 1990er Jahren Geborenen ist der Umgang mit den modernen internetgestützten Massenmedien eine Selbstverständlichkeit. Auch die Leute mittleren Alters sind online, und als wir in Beijing eine Seniorenresidenz besuchten, sahen wir selbst Hochbetagte stundenlang vor ihren Laptops sitzen.
Für die Chinesen ist das Internet zum wichtigsten Medium geworden. Presse und Fernsehen sind abgehängt, denn im Vergleich zu den Nachrichten der regierungsabhängigen Massenmedien ist das Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt der Nachrichten aus dem Netz wesentlich größer. …

Beeindruckend für alle ist die Geschwindigkeit, mit der sich Nachrichten im Internet verbreiten. Während in den Zentralen von Presse, Radio und Fernsehen noch beraten wird, ob und wie man über Katastrophen, Skandale und Unglücksfälle berichtet, ist die Netzgemeinde längst informiert. Im Internet findet heute der Kampf gegen Kaderwillkür, Korruption und andere Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft statt.

Am Internet wird nicht nur die Möglichkeit geschätzt, Informationen schnell weiterzugeben, sondern vor allem auch, anonym Kritik üben zu können. Faszinierend für die Nutzer und Furcht erregend für die Regierung ist die Tatsache, dass sich Hunderttausende von Menschen allein per Mausklick erreichen lassen. Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden diskutiert, Umweltprobleme und Arbeitslosigkeit debattiert. Augenzeugenberichte von Unglücksfällen und Katastrophen werden verbreitet, ebenso Informationen über Korruption und Vetternwirtschaft ausgetauscht. Regimekritiker kommen zu Wort, Diskussionen über Menschenrechte und Demokratie sind möglich. Skandale wie jener über verunreinigte Milch lassen sich nicht mehr so einfach vertuschen. Beängstigende Informationen können auf diesem Wege soziale Unruhen auslösen. Aus schwachen Gegnern der zentralistischen Staatsgewalt und aus vereinzelten Stimmen macht das Internet eine ernstzunehmende Größe, weil sich die Menschen im Netz zusammenschließen können. …
Die Internet-Öffentlichkeit hat inzwischen eine Macht erreicht, die die Regierung durchaus zu Zugeständnissen zwingen kann. Die Behörden tun alles, um die Netzwerke zu kontrollieren. Jedoch lässt sich der Zugang zu Informationen nur erschweren, verhindern lässt er sich nicht. …



Die kleinen Kaiser sind erwachsen geworden

  

Chinas Ein-Kind-Politik – oder – Wenn alle Hoffnungen und Erwartungen von Eltern und Großeltern sich auf ein Kind konzentrieren

Auszüge aus dem Buch „Pulverfass China“:

Auf dem Land setzen die Bauern wegen mangelnder Renten auch weiterhin zur Altersvorsorge auf Nachwuchs. Anders in den Städten, wo die Ein-Kind-Politik dank sicherer Renten durchgesetzt werden konnte. Dort lastet auf den Einzelkindern ein gewaltiger Erfolgsdruck.

Frau P., 64, pensionierte Lehrerin, Guangzhou: „Der heutigen Jugend geht es finanziell wesentlich besser als uns damals. Aber gefühlsmäßig geht es ihr schlechter. Sie ist von vielen Dingen abhängig. Wir hatten früher weder Handy noch Computer, SMS oder MSN. Wir mussten bei den Leuten persönlich vorbeigehen, wenn wir sie sprechen wollten. Wir mussten auch alles selber mit der Hand schreiben. Heute sitzen die jungen Leute einsam zu Hause vor ihren Computern und unterhalten sich mit Menschen, die sie nicht persönlich kennen. An den Schulen sind sie großem Druck und Konkurrenzkampf ausgesetzt. Das kannten wir früher nicht. Heute haben die Schüler kaum noch Freizeit. Es wird ihnen unglaublich viel Wissen vermittelt. Doch lernen sie eigentlich nur mit dem Ziel, diese elende Hochschuleintrittsprüfung zu bestehen. Sie werden viel zu wenig auf ihr späteres Leben und die Erfordernisse des Arbeitsmarktes vorbereitet. Unsere Lehrpläne sind veraltet, die Klassen überfüllt und die gesamte Lehrmethode den modernen Zeiten nicht angepasst.“

Die Generation der Einzelkinder hat kein gutes Image. Sie gilt als verwöhnt, egoistisch und oberflächlich. „Kleine Kaiser“ nennt man sie, denn sie herrschen über Eltern und Großeltern. Nicht mehr das älteste Mitglied der Familie ist das Oberhaupt, sondern der kleine Kaiser. Eltern und Großeltern nehmen ihm alles ab und machen ihn auf diese Weise häufig lebensuntüchtig.
Vom Kindergarten bis zur Universität hat man sie immer nur auf die Aufnahmeprüfung der nächsten Stufe vorbereitet. Im Kindergarten auf den Eintritt in die Grundschule, von dort in die Mittelschule und dann in die Universität. Alles wurde ihnen eingetrichtert, aber die wirklich wichtigen Dinge im Leben wie Anstand und gute Manieren – so beklagen es viele Ältere – hätten die jungen Leute nicht gelernt. Deshalb wird sogar im Fernsehen darüber diskutiert, wie man den jungen Leuten nach ihrem Universitätsabschluss noch gute Umgangsformen beibringen kann. Denn eigentlich gehörten sie noch einmal in den Kindergarten. …
Was denken die vielgescholtenen Einzelkinder über ihre Situation? Wir haben einige Stimmen gesammelt: …
H., 22, arbeitsloser Universitätsabsolvent, Shanghai: „Wir jungen Leute sind gut erzogen und bestens ausgebildet. Man hat uns immer gesagt, dass man verantwortungsbewusst und rücksichtsvoll gegenüber anderen sein soll, und jetzt merken wir, dass die Gesellschaft ganz anders funktioniert. Das haben wir nicht erwartet, und deshalb sind viele junge Leute enttäuscht. Es gibt keine Moral mehr und von Tugenden will auch niemand etwas wissen. Ständig hört man von Ungerechtigkeiten, von korrupten Beamten, betrogenen Bauern und verzweifelten Opfern der Umweltverschmutzung. Wo ist die Menschlichkeit geblieben, wo sind die guten Werte, die Tugend und die Moral? Man soll doch ein rechtschaffener Mensch sein. Wer anderen schadet, sollte dafür bestraft werden. Überall fehlt es an Mitleid und Zivilcourage. Es gibt keine Menschenliebe mehr. Auch nicht im medizinischen System. Deshalb ist es in manchen Krankenhäusern schon zu Schlägereien gekommen, weil die Angehörigen der Patienten den Ärzten Verantwortungslosigkeit und mangelnde Anteilnahme vorwerfen.
Heute ist oft zu hören, dass die Universitätsabgänger lieber noch einmal den Kindergarten besuchen sollten, um grundlegende Umgangsformen zu lernen. Das ist ein großes Vorurteil. Man behauptet, wir Einzelkinder wären egoistisch. Das stimmt nicht. Für uns sind unsere Cousins, Cousinen, Freunde und andere Verwandte wie Geschwister. Wie nett und uneigennützig waren die jungen Leute, die während der Olympiade ehrenamtlich geholfen haben. In dieser Hitze und dem Massenandrang haben sie wochenlang ausgehalten. Ich habe viele von ihnen gesehen, wie sie geduldig ihr Bestes gaben, Stunde um Stunde, und immer mit freundlicher Miene. Solche jungen Leute sollen unerzogen sein? Da besteht wohl ein großes Missverständnis. Wir jungen Leute haben keinen Krieg und keine Unruhen erlebt. Trotzdem sind wir nicht glücklich. Wir machen uns Sorgen um unsere Zukunft. Viele Schulen und Universitäten bieten keinen guten Unterricht. Der Druck ist groß und viel Fleiß wird uns abverlangt, aber was lernen wir? Die Kulturrevolution wirkt immer noch nach. Wir lernen beispielsweise die Geschichte der Kommunistischen Partei auswendig, aber wir erfahren nichts über unsere Traditionen und alte Kultur. Es bieten sich auch kaum alternative Möglichkeiten für uns. Es gibt zu wenig Jobs, die unserer Ausbildung entsprechen, und oft bekommt man sie nur über Beziehungen. Und dann die Umweltverschmutzung! Ich frage mich immer, wie einige Leute die Umwelt nur so verschmutzen können.
In China ist das Denken der Menschen noch immer feudalistisch geprägt. In der Familie gibt es ein Oberhaupt, im Dorf auch, wieso dann nicht auch im Land? Früher wünschten sich die Leute einen guten Kaiser, heute einen guten Präsidenten. Bis heute wissen die Chinesen nicht, was ein Bürger ist und was Bürgerrechte sind. Ich habe mal einen griechischen Spruch gelesen. Der lautete in etwa so: Erst wenn du Wissen hast, weißt du was Moral und Tugend bedeuten. Hier gibt es nicht viele Menschen, die das wissen, oder sie wissen es, setzen sich aber darüber hinweg.
Die Wurzel der Gesellschaft ist der Mensch. Die Kommunistische Partei besteht aus Menschen und kann deshalb auch nur so gut sein wie die Menschen, die ihre Mitglieder sind.“ China kann sich nur ändern, wenn jeder bei sich selbst anfängt. Demokratie fängt bei jedem einzelnen an.“



Von chinesischen Rettichköpfen und der Schwierigkeit, politische Systeme zu übertragen

  

Schon Marx hat gesagt…

Auszug aus dem Buch „Pulverfass China“:

Herr C., 53, Journalist, Beijing: „Schon Marx hat gesagt, dass die Wirtschaft die Politik kontrolliert. Politische Systeme entstehen und ändern sich mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten eines Landes. Insofern lassen sich Konzepte und Systeme auch nicht übertragen. Es kommt immer auf die Menschen an. China kann die westliche Demokratie nicht einfach kopieren, weil Gesellschaft und Denken in China völlig anders sind als im Westen. Vergleichen wir doch einfach nur zwei Tische, an denen jeweils zwanzig Personen sitzen und essen. An dem einen sitzen Deutsche und an dem anderen Chinesen. Und was passiert? An dem deutschen Tisch werden gedämpfte Gespräche geführt, an dem chinesischen herrscht fröhliches Geschrei, so dass die Deutschen die Chinesen als unzivilisiert betrachten und die Chinesen die Deutschen als langweilig.

Jedes Land hat seine eigene Geschichte und Tradition, deshalb reagieren die Menschen aufgrund ihrer historischen Erfahrungen auch unterschiedlich. Wenn sich beispielsweise im Westen Politiker aus ihrem Amt zurückziehen oder in Pension gehen, dann verabschieden sie sich auch von der politischen Macht. Nicht so in China. Bei uns wollen die politischen Führer auch nach ihrer Pensionierung noch Macht ausüben und in hohen Positionen sitzen. Sie scheuen sich auch nicht, sich in die Arbeit ihrer Nachfolger einzumischen. Macht und Privilegien sind etwas, das man in China nicht gern aufgibt.

Ein Gesetz, das von uns aus den USA oder aus Deutschland übernommen wird, muss hier nicht unbedingt so funktionieren wie in seinem Herkunftsland. Es verändert sich bei uns. Es wird sozusagen sinisiert. Man kann es auch anders ausdrücken: Wir sind chinesische Rettichköpfe, außen grün und innen rosa. Die wachsen nicht auf westlichem Boden. Das ist genauso, als wollte man einen südchinesischen Mandarinenbaum, der in Kanton süße Früchte trägt, nach Nordchina verpflanzen. Dort würde er nur saure Früchte tragen und vielleicht sogar eingehen.

Deutsche monieren häufig , dass wir hier im Lande keine Demokratie hätten, aber wissen sie überhaupt, was geschehen würde, wenn man die deutsche Demokratie auf China überträgt? Ich weiß, dass sich solche Systeme nicht einfach übertragen lassen, aber angenommen, es würde wirklich gelingen, könnte es dann friedlich bei uns zugehen? Daran zweifle ich. Ein Beispiel ist der Irak. Saddam sagte einst, wenn er stürbe, geriete der Irak in großes Chaos. Wie es heute aussieht, scheint er Recht zu behalten. Saddam ist tot. Und ist der Irak heute oder in absehbarer Zeit – wie von den Amerikanern erhofft – befriedet und eine Demokratie?“