Die musikbegeisterten Hongkonger

  

Das Image einer billigen Produktionsstätte hat die Stadt längst abgestreift. Heute gehört Hongkong mit seiner aufgeschlossenen Bevölkerung nach Singapur und Kobe zu den beliebtesten asiatischen Städten, an denen sich Ausländer niederlassen.


Viele Jahre lang hatte Hongkong das Image einer billigen Produktionsstätte für Spielzeug, Textilien, Elektronik und Uhren und zog als günstiges Einkaufsparadies Touristenströme aus aller Welt an. Auf mich wirkte Hongkong in den 1970/80er Jahren immer wie eine riesige Baustelle. Überall wurde gebohrt, gehämmert und gebaut, Altes wurde abgerissen, Neues aus Stahl, Glas und Beton aufgebaut, stetig höher hinaus und natürlich supermodern. Der Lärm war höllisch, die Staubentwicklung immens. Doch der Lärm kam nicht nur von den Baustellen, sondern drang auch aus den unzähligen Fabrikationsstätten und Heimwerkerbetrieben, in denen die so billigen Waren hergestellt wurden.

Arbeiten und Wohnen spielte sich damals in unmittelbarer Nachbarschaft und auf engstem Raum ab. Dann setzten in China die Wirtschaftsreformen ein und die Hongkonger Unternehmer verlegten ihre Produktionsstätten in die benachbarte, kostengünstigere Provinz Guangdong. 1997 erfolgte die Rückgabe der britischen Kronkolonie an China und viele glaubten, Hongkong hätte nun in jeder Hinsicht an Attraktivität verloren. Doch damit hatten sie die Rechnung ohne die quirligen Hongkonger gemacht, dieses bunt gemischte Völkchen, das sich in vielerlei Hinsicht auszeichnet. Inder, Philippinen, Europäer und Leute aus manch anderen Ecken dieser Welt leben in Hongkong, überwiegend jedoch Chinesen, und zwar Südchinesen, temperamentvolle Menschen also, die wissbegierig, fleißig und innovationsfreudig sind. Sie lieben Geselligkeit und gutes Essen, und sie verstehen etwas vom gesunden Leben. Schon seit Jahren gehören sie mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von über achtzig Jahren zu jener kleinen Gruppe, die weltweit die Statistiken anführt.

Hongkong ist heute ein wichtiger Brückenkopf zwischen den asiatischen und westlichen Volkswirtschaften und für Währungstransaktionen mit dem chinesischen Renminbi von herausragender Bedeutung. Doch damit nicht genug. Die Stadt hat sich als eines der weltweit führenden Auktionszentren einen Namen gemacht, vor allem in den Bereichen Kunst und Wein. Was meiner Meinung nach die Hongkonger aber ganz besonders auszeichnet, ist ihr unstillbarer Lerneifer und ihre große Liebe zur Musik. Hongkong ist heute ein Zentrum für zeitgenössische Musik. Mehr als 200 Komponisten leben und arbeiten in der 7-Millionen-Metropole. Ihre Konzerte sind meist ausverkauft. Internationale Orchester und berühmte Interpreten geben sich in Hongkong sozusagen die Klinke in die Hand. Die Chormusik ist allseits beliebt und weit verbreitet. Mit der Musikerziehung beginnt man bei den Kindern schon in frühem Alter. Oft hat mich erstaunt, mit welchem Ernst sich manche meiner Hongkonger Bekannten in der sparsam bemessenen Freizeit ihrem Hobby, dem Studium von klassischem Gesang, Klavier oder chinesischer Geige, widmen. Trotz eines anstrengenden Arbeitsalltags reicht es ihnen nicht, aus reiner Freude an der Musik einfach nur ein wenig zu singen oder zu spielen. Nein, sie haben den Ehrgeiz, sich dem Metier von der Pike auf zu widmen, mittels vieler Privatstunden, die – nebenbei bemerkt – in Hongkong viel Geld kosten.

Überaus beeindruckend war ein Abend, den ich kürzlich erleben durfte. Ich besuchte meine Freundin Rao Lan, eine Sopranistin, die in Frankfurt und München Liedgesang studiert und viele Jahre in Deutschland gewirkt hat. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Hongkong. Sie überraschte mich in ihrer Wohnung mit einem kleinen Konzert, das allein von ihren Privatschülern bestritten wurde. Diese arbeiten in verschiedensten Berufen, haben aber ein gemeinsames Hobby: den klassischen Gesang. Schubert und Schumann, natürlich auf Deutsch gesungen, aber auch italienisches Belcanto, mit voller Inbrust vorgetragen, dem deutschen Gast zuliebe. Ein anrührendes und unvergessliches Erlebnis.



In Gummihosen und Gummistiefeln auf der Konzertbühne

 

Eine Wasser überspülte Bühne. Musiker in Gummihosen und Gummistiefeln. Tänzerinnen, die fröhlich um sich spritzen, so dass manche Zuschauer auf den teuren Plätzen der ersten Reihe erschrocken in Deckung gehen. In der Ferne singende buddhistische Mönche. Meditative Klänge folgen auf lauten Rock. Atemstöße, Seufzer und das Klingen von Wasser und Metall folgen auf Bach. Willkommen in der „Water Music Hall“ des Tan Dun!

Ich hatte schon mehrfach Gelegenheit, Tan Dun und seine Musik live zu erleben. Etwa 1997 anlässlich der Rückgabe Hongkongs an China, als während der Feierlichkeiten seine eigens komponierte „Symphonie 1997“ aufgeführt wurde. Oder während der Olympiade in Beijing 2008, als China und die ganze Welt täglich Tan Dun hörten, weil er die Musik zur Siegerehrung geschrieben hatte. Ich erlebte ihn damals bei einer Abendveranstaltung, als er seine Komposition vorstellte und ihm anzusehen war, wie stolz und glücklich es ihn machte, seine Musik fortan bei jeder Medaillenvergabe hören zu können. Man muss den Mann mögen, wenn man ihn erlebt und die Begeisterung spürt, mit der er sich seiner Arbeit und immer neuen Ideen und Experimenten widmet.

Tan Dun, 1957 geboren, stammt aus Hunan, der Heimat für Geister- und Spukgeschichten. Eindrücke aus diesen Geschichten scheinen in seine Musik mit einzufließen. Während der Kulturrevolution arbeitete er als Reisbauer, später studierte er in Beijing und in den USA, und in beiden Welten ist er auch heute noch zu Hause, in New York ebenso wie in Shanghai. Die Eindrücke aus beiden Welten verarbeitet er, indem er wie kein anderer Chinesisches und Westliches, Traditionelles und Modernes, Himmel, Mensch und Natur miteinander verbindet und auch die ungewöhnlichsten Materialien zum Klingen bringt. An Mut und Ideenreichtum ist dieser Mann kaum zu überbieten.

Wer die Vielseitigkeit und ungewöhnliche Phantasie Tan Duns hautnah erleben will, sollte sich nach Zhujiajiao begeben, nur etwa eine knappe Autostunde von Shanghai entfernt. Jenes einst durch Handel und Handwerk reich gewordene Wasserstädtchen ist heute mit seinen vielen pittoresken Brücken und traditionellen Häusern ein Touristenzentrum. Sobald sich jedoch gegen Abend die Gassen leeren, kehrt Ruhe ein und dann hört man das leise Plätschern, wenn die Boote den Fluss entlang gestakt werden, hört die Gesänge der Mönche und die Stimmen der Anwohner. Tan Dun kam einst hierher, um lokales Liedergut zu sammeln. Das beschauliche Leben und der Reichtum an alten Traditionen inspirierten ihn, und er entschloss sich zu einem ungewöhnlichen Projekt. Direkt am Fluss ließ er zwei mehrere Jahrhunderte alte Häuser restaurieren und verwandelte sie zu einer „Water Music Hall“. Dabei blieb er seinem Anliegen, Chinesisches mit Westlichem zu verbinden, weiterhin treu: Die gesamte Anlage ist eine grandiose Mischung aus zweckmäßigem Bauhausstil und Ming-zeitlicher, durch klare Linien geprägte Architektur. Der großzügig angelegte Bühnenraum besteht aus zwei großen mit Wasser bedeckten Flächen. Die dahinter gelegene Glaswand gibt den Blick frei auf den jenseits des Flusses gelegenen buddhistischen Tempel. Im oberen Stockwerk befinden sich Wohn- und Arbeitsräume. Hier schuf Tan Dun sein „Water Concerto: A Drop from Heaven“, und wenn er im Lande ist, führt er auch selbst in die Veranstaltungen ein und erklärt den folgenden Dialog zwischen Bach und Zen, bringt die Architektur, also Säulen und Treppen, zum Klingen und macht durch Videoeinspielungen die Musik sichtbar. Wenn sich dann im Laufe des Konzerts die hinteren Glaswände öffnen und der rituelle Gesang der Mönche im gegenüber liegenden Tempel herüberdringt und die Musiker Wasser aus riesigen gläsernen Schalen schöpfen und es wie vom Himmel hinuntertropfen lassen, vergisst man Raum und Zeit und fühlt sich wie in einem Traum. Ein atemberaubendes Erlebnis!



Wer kennt Chongmingdao?

  

Taiwan kennt jeder. Von Hainan haben auch schon viele gehört. Aber wer kennt Chongmingdao, die immerhin drittgrößte Insel Chinas, in der Yangzimündung und damit unmittelbar vor der Haustür Shanghais gelegen?

Bis vor kurzem fristete sie ein abgeschiedenes Dasein. Nur wenige Besucher verirrten sich dorthin. Die Anreise mit Bus und Fähre war recht aufwendig. Nennenswerte historische Baudenkmäler gibt es nicht und auch sonst passierte dort nicht viel. In einer alten Redensart heißt es, die Menschen auf Chongmingdao lebten mit vier Generationen harmonisch unter einem Dach. Niemand brauche sich Sorgen über das Alter zu machen, denn dank fruchtbarer Böden, die durch Schlammablagerungen des Yangzi entstanden sind, und reicher Fischbestände hätte man ein bescheidenes Auskommen. Trotzdem wanderte die Jugend in den vergangenen drei Jahrzehnten ebenso wie anderenorts in China lieber in die modernen Städte ab. Sie wollte von dem beschwerlichen Landleben nicht mehr viel wissen. Dies scheint sich jetzt zu ändern.


Vor einigen Wochen lud ein Opernsänger ein paar Freunde und mich zu einem Ausflug nach Chongmingdao ein. Ich fragte mich heimlich, warum es ausgerechnet auf diese abgelegene Insel gehen sollte. Die Überraschung war groß. Über hochmoderne Autobahnbrücken und Tunnel ging die Fahrt. Im Nu waren wir dort. Von Abgeschiedenheit also keine Spur mehr. Wird die Insel deshalb denselben Weg wie Shanghai gehen und in den nächsten Jahren flächendeckend mit Hochhäusern zugepflastert? Die Behörden verfolgen offenbar andere Pläne. Sie sprechen von Naturschutz, ökologischen Projekten und Nachhaltigkeit. Chongmingdao soll der Garten Shanghais werden, ein riesiges Erholungs- und Freizeitgebiet. Bis zum Jahre 2020 werden über fünfzig Prozent der Insel mit Parkanlagen, Gärten und Wald bedeckt sein. Ich war erstaunt zu sehen, wie viele Ausflügler schon heute per Fahrrad, Boot oder zu Fuß unterwegs sind. Nicht nur die zum Teil atemberaubend schöne Umgebung gibt es zu genießen, sondern auch bestes Essen.

Chongmingdao ist ein Geheimtipp für Gourmets. Berühmt sind Krebse, Fisch und saisonales Gemüse, aber auch Spezialitäten wie Fladen und Reismehlspeisen. Ein Fan unseres Gönners betreibt eine der komfortablen Hotelanlagen, die in den letzten Jahren auf der Insel entstanden sind. Er ließ es sich nicht nehmen, den Opernstar und dessen Freunde zu einem köstlichen Essen einzuladen. Von ihm erfuhr ich so manches Bemerkenswerte. Beispielsweise erzählte er, dass die Bauern Chongmingdaos im Schnitt acht Jahre länger lebten als die stressgeplagten Shanghaier. Dies sei auf die Nahrungsmittel zurückzuführen, die man qualitäts- und umweltbewusst erzeuge. Bis vor kurzem produzierten die Bauern hauptsächlich für den eigenen Bedarf. Doch seit sich die Nachricht von der höheren Lebenserwartung herumgesprochen hat, sind ihre Erzeugnisse der große Renner. Vor allem die gesundheitsbewussten Shanghaier Rentner stürmen die Insel und kaufen die Lebensmittel auf, was zu erhöhter Nachfrage und steigenden Preisen führt. Bei so manchem Insulaner erregt dies allmählich reichlich Unmut, denn neben steigenden Preisen gibt es auch noch verstopfte Bahnen und Busse zu beklagen. Die unternehmungslustigen Shanghaier Rentner reisen nämlich dank der Vergünstigungen im städtischen Nahverkehr zum Nulltarif und rücken deshalb gut gelaunt in wahren Scharen an.

Wie auch immer: wer Zeit und Gelegenheit hat, sollte Chongmingdao unbedingt einen Besuch abstatten. Es lohnt sich.



Kanton und Foshan 1979

 

Erster Teil der bisher unveröffentlichten Reisenotizen des Hans-Wilm Schütte, der heute zu den meistgelesenen deutschen Chinaautoren gehört.


Meine erste Reise in die VR China erfolgte erst im März 1979.  Aufzeichnungen davon besitze ich nicht mehr, aber ausgerechnet über diesen Kurztripp von Hongkong über die Grenze – hin mit dem Flieger, zurück mit der Bahn, dazwischen nur zwei Übernachtungen – über diesen belanglosen Ausflug also haben schon Tausende von Menschen gelesen, und zwar in den Lebenserinnerungen meines Lehrers und Kollegen Kuan Yu-chien: Mein Leben unter zwei Himmeln.
Der Text scheint mir als Einstieg geeignet, weil er die Zerrissenheit spüren lässt, die Maos kulturrevolutionäre Politik in China angerichtet hatte. Zerrissen waren die Familien der Intellektuellen durch die Landverschickung, zerrissen waren die Seelen der Städter durch die politischen Kampagnen, zerrissen waren die chinesischen Traditionen durch eine völlig willkürliche revolutionäre Bewegung, die lediglich der Idee eines Mannes, eben Mao Zedongs, entsprungen war.

Zwei Tage blieben wir in Kanton, wurden dort zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten geführt, unternahmen auch auf eigene Faust kleine Rundgänge und sprachen mit den Menschen, die wir hier und da kennen lernten. Die kurze Zeit hinterließ tiefe Eindrücke. Ich spürte, dass sich die Menschen noch nicht von der Kulturrevolution erholt hatten. Die allgemeine Atmosphäre war unheimlich und bedrückend. Die Straßen erschienen mir trostlos und dunkel, und ähnlich deprimierend wirkten die Menschen in ihrer dunkelblauen Einheitskleidung. Es gab kaum Läden. Wir gingen in eine Buchhandlung. Ein paar trübe Neonröhren warfen dort ihr spärliches Licht auf ein kümmerliches Sortiment. Außer Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Zedong und ein paar Geschichtswerken gab es praktisch nichts zu lesen. Nur wenige Kunden standen in dem Laden, niemand kaufte etwas. Wir gingen in ein Restaurant, das mir noch von früher als eins der besten in Kanton bekannt war. Allein der Eingangsbereich war so schmutzig, und die Kellner waren derart unfreundlich, dass ich mich vor meinen Studenten und Kollegen richtig schämte. Was war nur aus China geworden! Es erschien mir so rückständig und so unerträglich, dass ich Kanton am liebsten so schnellwie möglich wieder verlassen hätte. Aber der Rest der Gruppe sah das anders. Da sie alle Sinologen waren, kamen sie mit ganz anderen Augen nach China als ich. Sie fühlten sich zwar auch nicht wohl, waren aber neugierig und beobachteten alles mit großem Interesse.

Was Kuan hier für 1979 zu Recht konstatiert, galt auch noch bei meiner ersten Rundreise durch China. Das war eine organisierte Tour, die ein Hongkonger Reisebüro organisiert hatte und unter anderem nach Shanghai und Peking führte. In Peking waren die Hotelkapazitäten damals allerdings derart begrenzt, dass die Gruppe in Tianjin nächtigen musste. Als ich dort nach der Ankunft einen kleinen Bummel durch die Umgebung unternahm, begegnete mir mein früherer Kommilitone Harald Richter, der bei der deutschen Botschaft arbeitete und just am selben Tag wie auch ich zum ersten Mal in Tianjin war. Das war also, wie wenn man von Hamburg nach Bremen fährt und dort auf dem Markt einem Freund begegnet, der gerade aus Madrid angekommen ist. Ich wollte dann die Gelegenheit nutzen, mich für einen Tag von der Gruppe absentieren und bei ihm in Peking übernachten, um mir die Hin- und Herfahrerei zwischen Peking und Tianjin zu sparen. Das war nun allerdings keine leichte Sache, denn damals, 1980, war alles noch streng bürokratisch geregelt. Auch Chinesen brauchten außer einer Fahrkarte stets eine Genehmigung zum Reisen im Land selbst bzw. einen entsprechenden Ausweis. Der chinesischen Reiseleiterin habe ich mit meinem naiven Wunsch damals das Leben ganz schön schwer gemacht. Ich musste dann auch selbst mitkommen zur Polizei, um die Genehmigung für eine Zugfahrt nach Peking zu erhalten. Schließlich ging aber alles glatt, und ich bin nicht mal kontrolliert worden – von der Fahrkartenkontrolle natürlich abgesehen.

Damals waren Ausländer zumindest in Tianjin noch derart selten, dass das Zufallstreffen mit meinem früheren Kommilitonen einen riesigen Menschenauflauf auslöste. Dabei taten wir nichts anderes, als uns am Straßenrand angeregt zu unterhalten. Der Kreis der Neugierigen schwoll derart an, dass die Straße blockiert wurde und die Polizei kommen musste, um den Auflauf zu zerstreuen. Uns beiden machte man allerdings keinen Vorwurf.



Von chinesischen Rettichköpfen und der Schwierigkeit, politische Systeme zu übertragen

  

Schon Marx hat gesagt…

Auszug aus dem Buch „Pulverfass China“:

Herr C., 53, Journalist, Beijing: „Schon Marx hat gesagt, dass die Wirtschaft die Politik kontrolliert. Politische Systeme entstehen und ändern sich mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten eines Landes. Insofern lassen sich Konzepte und Systeme auch nicht übertragen. Es kommt immer auf die Menschen an. China kann die westliche Demokratie nicht einfach kopieren, weil Gesellschaft und Denken in China völlig anders sind als im Westen. Vergleichen wir doch einfach nur zwei Tische, an denen jeweils zwanzig Personen sitzen und essen. An dem einen sitzen Deutsche und an dem anderen Chinesen. Und was passiert? An dem deutschen Tisch werden gedämpfte Gespräche geführt, an dem chinesischen herrscht fröhliches Geschrei, so dass die Deutschen die Chinesen als unzivilisiert betrachten und die Chinesen die Deutschen als langweilig.

Jedes Land hat seine eigene Geschichte und Tradition, deshalb reagieren die Menschen aufgrund ihrer historischen Erfahrungen auch unterschiedlich. Wenn sich beispielsweise im Westen Politiker aus ihrem Amt zurückziehen oder in Pension gehen, dann verabschieden sie sich auch von der politischen Macht. Nicht so in China. Bei uns wollen die politischen Führer auch nach ihrer Pensionierung noch Macht ausüben und in hohen Positionen sitzen. Sie scheuen sich auch nicht, sich in die Arbeit ihrer Nachfolger einzumischen. Macht und Privilegien sind etwas, das man in China nicht gern aufgibt.

Ein Gesetz, das von uns aus den USA oder aus Deutschland übernommen wird, muss hier nicht unbedingt so funktionieren wie in seinem Herkunftsland. Es verändert sich bei uns. Es wird sozusagen sinisiert. Man kann es auch anders ausdrücken: Wir sind chinesische Rettichköpfe, außen grün und innen rosa. Die wachsen nicht auf westlichem Boden. Das ist genauso, als wollte man einen südchinesischen Mandarinenbaum, der in Kanton süße Früchte trägt, nach Nordchina verpflanzen. Dort würde er nur saure Früchte tragen und vielleicht sogar eingehen.

Deutsche monieren häufig , dass wir hier im Lande keine Demokratie hätten, aber wissen sie überhaupt, was geschehen würde, wenn man die deutsche Demokratie auf China überträgt? Ich weiß, dass sich solche Systeme nicht einfach übertragen lassen, aber angenommen, es würde wirklich gelingen, könnte es dann friedlich bei uns zugehen? Daran zweifle ich. Ein Beispiel ist der Irak. Saddam sagte einst, wenn er stürbe, geriete der Irak in großes Chaos. Wie es heute aussieht, scheint er Recht zu behalten. Saddam ist tot. Und ist der Irak heute oder in absehbarer Zeit – wie von den Amerikanern erhofft – befriedet und eine Demokratie?“



Die Teekannenblase

  

Zishahu aus Yixing

Immer wieder wird von einer chinesischen Immobilienblase berichtet. Wohnungen und Häuser in Metropolen wie Beijing und Shanghai sind zu Spekulationsobjekten geworden. Irgendwann, so heißt es, platze die Blase und viele Leute würden eine Menge Geld verlieren. Aber wen bewegt eigentlich die Teekannenblase? Hat schon mal jemand davon gehört?

Mitte der 1970er Jahre, während meiner ersten Chinareise, entdeckte ich die Keramikkännchen aus Yixing. Seitdem habe ich mein Herz an sie verloren. Die Chinesen nennen sie zishahu, purpurne Tonkannen, weil die Tonerde Yixings, die reich an Eisenoxid ist, ihnen den so typischen rotbräunlichen Farbton verleiht. Neben den warmen Farbnuancen ist es die besondere Materialbeschaffenheit, die diese Teekannen auszeichnet und bei den Chinesen so beliebt macht. Der poröse Ton nimmt das Teearoma auf und verstärkt dadurch den Geschmack.  Das ist umso interessanter, als der Tee recht stark und nur in kleinen Schlucken genossen wird. Handelt es sich beispielsweise um den halbfermentierten Wulongtee, füllt man die Kanne mit Blättern halbvoll, überbrüht und lässt sie nur etwa eine Minute ziehen bevor der Tee in kleine Becher abgegossen wird. Manche älteren Herrschaften halten an dem alten Brauch fest, direkt aus einem eigenen Kännchen zu trinken. Ist eine Kanne lange Jahre in Gebrauch, steckt so viel Aroma in dem Ton, dass allein ein Aufguss mit heißem Wasser schon nach Tee schmeckt.
Zishahu gibt sie in allen Variationen – von schlicht bis elegant und kunstvoll verziert und verschnörkelt, und natürlich auch in allen Größen. Im allgemeinen sind die Kännchen zierlich und passen bequem auf einen Handteller. Nur im Norden bevorzugt man die größeren Kannen, in die viel hineinpasst. Ich begann damals, in den 1970er Jahren, also eifrig zishahu zu sammeln. So ein Kännchen kostete ja nicht viel, und mein lieber Mann, der meine Sammelleidenschaft nicht unbedingt teilte, lächelte nur immer amüsiert, wenn ich mal wieder stolz auf ein volles Dutzend wies. Unruhig wurde er erst, als ich mich für Meisterstücke zu interessieren begann und die Massenware links liegen ließ.

Yixing, keine zweihundert Kilometer westlich von Shanghai gelegen, ist das Mekka für all jene, die meine Vorliebe teilen. Was kann es Schöneres geben, als dort durch die Läden und Manufakturen zu streifen. Vor fast zwanzig Jahren hatte ich erstmals Gelegenheit, die bescheidenen Werkstätten einzelner Meister zu besuchen. Unter ihnen war ein junger Mann, der, anstatt wie seine Kollegen mit neuen Formen zu experimentieren, sich an die schlichte Eleganz jahrhundertealter Vorbilder hielt. Eins seiner Werke fiel mir ganz besonders ins Auge. Für umgerechnet viertausend Euro hätte ich es haben können. Doch das war ein Preis, der für mich jenseits von gut und böse lag. Soviel war ich nicht bereit auszugeben. Kürzlich hielt ich mich erneut in Yixing auf. Aus manchen Meistern sind inzwischen wohlhabende Unternehmer geworden und aus ihren bescheidenen Werkstätten weitläufige Studios mit angeschlossenen Ausstellungsräumen und atemberaubenden Sammlungen. Ich entdeckte ein ähnliches Kännchen wie ich es damals hätte haben können. Rückblickend wäre es ein Schnäppchen gewesen, denn inzwischen hat sich der Preis mehr als verzehnfacht. Aus Mangel an lukrativen Investitionsmöglichkeiten legen viele Chinesen heute ihr Geld in Kunst an, und so natürlich auch in meine heißgeliebten Zishahu. Manche Meister können sich vor Bestellungen kaum retten und verlangen horrende Preise. So warte ich ab bis die Blase irgendwann platzt, damit ich vielleicht doch mal preisgünstig an ein schönes Stück komme.



Chinas achtbeinige Auslandsstudenten

 

Von Da zha xie – Wollhandkrabben und den Tricks chinesischer Krabbenzüchter

Mit dem Mondfest geht es los. Dann schlagen die Herzen der chinesischen Gourmets höher. Nicht weil im ganzen Land die Mondkuchen auftauchen, jenes süße und schwer verdauliche Gebäck, das zum Mondfest gehört wie der Tannenbaum zum deutschen Weihnachtsfest. Diese kunstvoll verpackten Kuchen werden dann überall verschenkt, doch kaum jemand mag sie heute noch wirklich essen. Nein, mit dem Mondfest am 15. Tag des achten Mondmonats, wenn der hellste und klarste Vollmond des Herbstes zu sehen ist, beginnt die Saison der Wollhandkrabben.

Und deshalb sind sie schon seit Wochen überall in Shanghai zu sehen: in Körben und Aquarien, auf Märkten, in Geschäften und Restaurants, beim fliegenden Händler an der Ecke und sogar in manchen Shops auf den Flughäfen. Besonders sympathisch anzusehen sind diese dunkelgrün schimmernden Krabbeltiere nicht gerade, für die Shanghaier jedoch und für viele andere Chinesen auch gibt es – zumindest zu dieser Jahreszeit – nichts Köstlicheres als die „da zha xie“ (Große-Gatter-Krabben), eine Delikatesse, für die sie gern tief in die Tasche zu greifen.

Den seltsamen Namen verdankt die Krabbe, die zu den Kurzschwanzkrebsen gezählt wird, dem dichten Haarpelz an den Scheren der Männchen. In China liegt das Zentrum ihrer Zucht im Mündungsgebiet des Yangzi-Flusses und den zahlreichen Süßwasserseen der Provinz Jiangsu. Beides ist für ihre Zucht nötig, Salz- wie auch Süßwasser. Kenner behaupten, dass die schmackhaftesten Tiere aus dem Yangchenghu kommen, einem riesigen Seengebiet etwa anderthalb Autostunden westlich von Shanghai gelegen. Und davon scheinen auch alle übrigen Chinesen überzeugt zu sein, denn für die edlen Yangchenghu-Exemplare muss man wesentlich mehr bezahlen als für ihre Kollegen aus weniger bekannten Gewässern. Weil die Nachfrage bei weitem die Produktion übersteigt, schaffen pfiffige Geschäftsleute billige Krabben massenhaft aus anderen Gebieten heran, tauchen sie in Körben für ein paar Tage in den berühmten See und verkaufen sie dann mit prächtigem Gewinn als Original Yangchenghu-Krabbe. Doch die Einheimischen kennen diesen Trick und nennen solche Exemplare „Auslandsstudenten“, weil sie sozusagen zur Verbesserung ihrer Qualität einen Aufenthalt in einem fremden Gebiet absolviert haben. Natürlich meinen die echten Experten genau unterscheiden zu können, ob es sich um einen einheimischen oder einen zugereisten Krebs handelt. Um sicherzugehen, dass man auch wirklich bekommt wofür man zahlt, düsen an jedem Wochenende Massen von Feinschmeckern in ihren deutschen und japanischen Autos zum Yangchenghu, an dessen Ufern sich mehrere Tausend Restaurants aller Größen und Kategorien reihen, suchen sich ihre Krebse selbst aus den Körben aus und lassen sie sich an Ort und Stelle frisch zubereiten.

Es gibt mehrere Möglichkeiten der Zubereitung. Am Yangchenghu werden die Krabben gedämpft, bis nach etwa zwanzig Minuten ihre Schale krebsrot ist. Danach rückt man ihnen mit Schere und Spieß zu Leibe. Doch die wahren Gourmets lehnen jedes Werkzeug ab, denn mit Fingern und Zähnen geht alles viel einfacher und ist nebenbei noch schmackhafter. Der Rückenpanzer wird abgehoben, der Krebs in zwei Hälften geteilt, in dunklen Reisessig mit Ingwer getaucht und den Rest erledigen die Zähne. Dazu trinkt man dunklen Reiswein und nach dem Essen heißen Ingwertee mit Rohrzucker.

Ich muss zugeben, dass ich mich den lebendigen Krebsen nur ungern nähere und sie auch nicht auswählen mag, aber krebsrot und zubereitet sind sie wirklich eine Köstlichkeit.



Überraschendes am Ufer des Kaiserkanals

 


Hangzhou verwandelt alte Lagerhäuser und Fabrikhallen zu Zentren lokalen Kunsthandwerks

Es gibt wohl kaum einen frustrierenderen Job, als den eines Denkmalschützers in China. Früher machte die Ideologie den Leuten das Leben schwer, heute ist es der schnelle Profit. Zu Beginn der so genannten Kulturrevolution rief Mao Zedong zur Zerstörung der “vier Alten” auf – der alten Kultur, alten Sitten, Gebräuche und Denkweisen. Der Prozess des Zerstörens bedeute Kritik und Revolution und folglich Neubeginn. Nur wenn das Altes zerstört würde, könne Neues aufgebaut werden. Die fanatisierte Jugend – als “Rote Garden” organisiert – gab sich alle Mühe, Maos Forderung in die Tat umzusetzen. Mit dramatischen Folgen für Kulturschaffende und das kulturelle Erbe. Die Kulturrevolution endete nach zehn Jahren, doch die Zerstörung sollte weitergehen, denn mit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik setzte ein gewaltiger Wirtschaftsboom ein, dessen Triebfeder der Städte- und Wohnungsbau wurde. Reihenweise fielen Stadtviertel dem Abriss zum Opfer, unzählige historische und erhaltenswerte Bauwerke gingen für immer verloren. Chinas Metropolen haben längst ihr individuelles Gesicht verloren und gleichen einander mit glitzernden Bürotürmen, weitläufigen Plätzen, breiten Straßen, Einkaufszentren und Hochhaussiedlungen. Deswegen überrascht es immer wieder, wenn doch einmal etwas Altes erhalten und sinnvoll genutzt wird. Wie etwa in Hangzhou, am südlichen Ende des Kaiserkanals. Dort beschlossen Investoren und Vertreter der Stadt, die “Kultur am Kaiserkanal” wieder aufleben zu lassen. Zu diesem Zweck sollten an dessen Ufern mehrere historische Wohnviertel, Lagerhäuser und Werkstätten abgerissen und durch moderne Hochhaussiedlungen ersetzt werden. Nun ist der Kaiserkanal nicht irgendein Gewässer, sondern der längste und älteste künstliche Wasserweg der Erde und neben der Großen Mauer eins der bedeutendsten historischen Bauwerke Chinas. Obwohl erste Abschnitte schon aus vorchristlicher Zeit stammen, gilt Kaiser Yangdi der Sui-Dynastie als Bauherr. Ende des sechsten Jahrhunderts ließ er das umfassende Kanalsystem anlegen, das unter späteren Kaisern noch ausgebaut wurde. Mit einer Länge von 1794 Kilometern kreuzte der Kaiserkanal in Nord-Süd-Richtung unter anderem den Gelben und den Jangzi Fluss, also die größten Flussläufe des Landes, und verband diese zu einem gewaltigen Verkehrsnetz. Dadurch wurde zwischen dem Süden und Norden Chinas ein reger Austausch an Waren und Wissen ermöglicht. Erst durch den Kaiserkanal entwickelten sich Städte wie Hangzhou zu blühenden Handelsmetropolen. Nicht grundlos nannte Marco Polo Hangzhou denn auch die glanzvollste Stadt der Welt.

Der Protest gegen den Abriss der historischen Viertel am Ufer des Kanals ließ nicht lange auf sich warten, doch zeigte er bei den Behörden erst Wirkung, nachdem vieles schon zerstört war. Der späte Erfolg kann sich dennoch sehen lassen. So wurden beispielsweise mehrere Lagerhäuser und Fabrikhallen erhalten und in ein weitläufiges Zentrum für traditionelles Kunsthandwerk verwandelt. Ob Drachenbau, Scherenschnitt, Fächer, Sonnenschirme oder Seidenstickerei, ob Scheren oder Skulpturen – der riesige Komplex beherbergt mehrere Museen, die mit ihrer großen Vielfalt an hervorragend präsentierten Exponaten einen beeindruckenden Überblick über die Entwicklung des chinesischen Kunsthandwerks und dessen Verbreitung über den Kaiserkanal geben.

Unter den Besuchern befinden sich auffallend viele Eltern mit ihren Kindern, denn die Verantwortlichen haben sich einiges einfallen lassen, um auch junges Publikum anzuziehen. So demonstrieren auf eigens angelegten Werkplätzen verschiedenste Kunsthandwerker ihr Können, und jeder kann ihnen beliebig über die Schulter schauen. Mancher muss durch Absperrungen vor zu großem Ansturm geschützt werden. Besonders umlagert sind die vielen Werktische, an denen sich Kinder unter Anleitung von jungen Studenten in die Handwerkskünste einführen lassen können. Deswegen erinnert der Lärmpegel in einigen Teilen der Räumlichkeiten auch eher an einen gut besuchten Kinderspielplatz als an ein Museum. Das tut dem Ganzen aber keinen Abbruch. Im Gegenteil. Man kann nur hoffen, dass das Hangzhouer Beispiel im Lande noch viel Nachahmung findet.